Was liegt näher als die Gründung eines Vereins „Kunst und Justiz“ in einem Gerichtsgebäude, das die Architekten als „Gesamtkunstwerk“ konzipiert und ausgeführt haben. 1888 bis 1895 als Sitz des Reichsgerichts erbaut, sollte der historische Monumentalbau die mit der Gründung des Deutschen Reichs erlangte Rechtseinheit und die erst im 19. Jahrhundert gewonnene Bedeutung von Rechtsschutz und unabhängiger Rechtspflege wirkungsvoll zum Ausdruck bringen.
Schon von außen wird die Funktion des Gebäudes deutlich. Weithin sichtbar gibt die Figur der Wahrheit auf dem zentralen Kuppelbau das Leitbild justizieller Tätigkeit vor. Aspekte der „guten Justiz“ verkörpert die Portikus-Reliefgruppe. Skulpturen bedeutender Personen der deutschen Rechtsgeschichte weisen auf die Traditionen des Rechts hin.
Das architektonische Zentrum im Innern bildet die Zentralhalle, deren Raumkonzept Elemente der römischen Antike und italienischer Renaissancebauten aufnimmt und fortentwickelt. Der Große Sitzungssaal war Schauplatz spektakulärer Reichsgerichtsprozesse wie desjenigen um den Reichstagsbrand. Heute finden hier Sitzungen des Bundesverwaltungsgerichts statt, für dessen Umzug von Berlin nach Leipzig das Reichsgerichtsgebäude in den Jahren 1995 bis 2002 grundlegend renoviert worden ist.
Mit seiner reich verzierten und zum Teil vergoldeten Eichenholzvertäfelung, den kaiserlichen Insignien, den Wappen der deutschen Länder zur Zeit des Kaiserreichs und der Städte, in denen Oberlandesgerichte ihren Sitz hatten, bietet der Große Sitzungssaal einen eindrucksvollen Rahmen für die Konzerte des Vereins.
Für die Sitzungen des höchsten deutschen Verwaltungsgerichts stehen weitere sechs Sitzungssäle zur Verfügung, von denen drei in der historischen Fassung wiederhergestellt werden konnten. Von der früheren Wohnung des Reichsgerichtspräsidenten sind der Speisesaal mit seiner außergewöhnlichen Holzdecke und vor allem der im barocken Stil ausgeführte und im ursprünglichen Glanz wieder hergestellte Festsaal erhalten.
Der Saal
Konzerte im Gerichtssaal? Ludwig Hoffmann, der Architekt des ehemaligen Reichsgerichts, konnte sich gewiss nicht vorstellen, dass der überaus prachtvoll ausgestattete Große Sitzungssaal einmal als Aufführungsort für klassische Kammerkonzerte dienen könnte. Derlei Gedanken lagen damals völlig fern.
Der Große Sitzungssaal war seinem Zweck entsprechend in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Schauplatz Aufsehen erregender Hochverratsprozesse, für die das Reichsgericht in erster und letzter Instanz zuständig war. Der Sozialdemokrat und spätere Reichstagsabgeordnete Karl Liebknecht stand in diesem Saal 1907 vor Gericht, das ihn wegen einer Schrift über Militarismus und Antimilitarismus zu eineinhalb Jahren Festungshaft verurteilte. Carl von Ossietzky, der Herausgeber der „Weltbühne“, wurde nach einem Artikel über die geheime Aufrüstung der Reichswehr wegen Verrats militärischer Geheimnisse 1931 zu einer Haftstrafe von 18 Monaten verurteilt. Ein Jahr zuvor hatte der Hochverratsprozess gegen einige Ulmer Reichswehroffiziere mit Verbindungen zur NSDAP deren Parteivorsitzendem Adolf Hitler die Bühne geboten, vor dem höchsten deutschen Gericht stundenlang vorzutragen und sich hoffähig zu machen.
Das wohl spektakulärste Verfahren, das in diesem Saal verhandelt wurde, war der Reichstagsbrand-Prozess, in dem das Reichsgericht 1933 nach 57 Verhandlungstagen den holländischen Linksradikalen Marinus van der Lubbe als Alleintäter zum Tod verurteilte und den bulgarischen Kommunisten Georgi Dimitroff ebenso wie drei weitere Kommunisten vom Anklagevorwurf der Beteiligung an der Brandstiftung freisprach. Der Saal blieb während der DDR-Zeit in seinem Originalzustand erhalten, weil man ihn schon 1950 zur Gedächtnisstätte für den dort angeklagten Kommunistenführer und späteren bulgarischen Ministerpräsidenten Dimitroff bestimmt hatte.
Der Große Sitzungssaal, der durch den Portikus der Eingangsfassade des Gerichtsgebäudes von außen hervorgehoben wird und in seiner Länge und Breite der Großen Halle entspricht, wurde zum Einzug des Bundesverwaltungsgerichts im Jahr 2002 vorbildlich restauriert. Mit einem reich verzierten, wandhohen Eichenholzpaneel, einem Schnitzwerk vorspiegelnden Stuckrelief und einer Kassettendecke aus Holz imitierendem Stuck, hohen bleiverglasten Fenstern und zwei Emporen an den beiden Stirnseiten ist der Saal ein architektonisches und kunsthistorisches Kleinod.
In den mittleren Hauptfeldern der Decke sind die Wappen der früheren deutschen Königreiche Preußen, Bayern, Sachsen und Württemberg, in den Nebenfeldern der Decke und an den Wänden die Wappen der übrigen, mit der Reichsverfassung von 1871 zum Deutschen Reich vereinigten deutschen Einzelstaaten vergoldet dargestellt. Die Bleiglasfenster zeigen die Embleme der 25 deutschen Städte, die bei Vollendung des Gebäudes im Jahr 1895 Sitz eines Oberlandesgerichts waren. An der gegenüberliegenden Wand sind Gemäldeporträts des Kaisers Wilhelm I. und seines Nachfolgers Friedrich III. in die Vertäfelung eingelassen. Die beiden restaurierten Kronleuchter betonen den erhabenen Charakter des Prachtsaals. Der Saal wird vom Bundesverwaltungsgericht für die Verhandlung publikumswirksamer Prozesse genutzt, wie Anfang 2006 im Verfahren über die Genehmigung des Flughafens Berlin-Schönefeld.
Als im Jahr 2003 im Großen Sitzungssaal erstmals ein Kammerkonzert aufgeführt wurde, waren die anwesenden Musikfreunde über die herausragende Saalakustik hocherfreut. Die besondere Eignung des Saals für die Aufführung klassischer Musik war der entscheidende Anstoß zur Gründung des Vereins Kunst & Justiz im Bundesverwaltungsgericht e.V. Anfang 2004. Seitdem veranstaltet der Verein im Großen Sitzungssaal jährlich rund acht Konzerte mit Orchestern, Kammermusikensembles und Solisten. Konzerte im Großen Sitzungssaal des Bundesverwaltungsgerichts sind damit wie die vertraute Kunst am Bau zu einer kulturellen Selbstverständlichkeit geworden. Sie entsprechen der Aufgabe des Staates zur Förderung der Kultur.
Musiker und Zuhörer rühmen die Festlichkeit und die außergewöhnliche Qualität des Saals zur präzisen und klangvollen Wiedergabe der Musik.