Bayreuther Hügelstürmer hautnah
Gemeinhin zählt der „Fliegende Holländer“ zu den vergleichsweise weniger schweren Werken. Für Wagner-Verhältnisse! Aber die beiden Teile der Großpartitur sind schwer genug, um einen sonst stabilen Notenständer zumindest ins Wackeln zu bringen. Da schwant David Timm nichts Gutes, weiß er doch um die physische Gewalt, die so ein Wagner-Abend entwickeln kann. Dann den Holländer lieber doch im fliegenden Partiturenwechsel, notfalls ein paar Takte auswendig. Und es klappt.
Es ist ein denkwürdiges Ereignis, was am Wochenende in den Hallen des Bundesverwaltungsgerichts vollbracht wird. Nicht nur, dass hier Wagners erster ganz großer Wurf in der Urfassung von 1841 erklingt, sondern dass man es mit vereinten Kräften tatsächlich geschafft hat, den Bayreuther Hügelstürmer zu ganz neuen Qualitäten zu verhelfen. Teils aus Umstandszwang, teils durch beispielhafte Hingabe.
Denn in diesem Ambiente ist Wagner hautnah, schon fast kammermusikalisch. Jeder Ansatz, jeder Sturm, jedes Feuer wird unmittelbar greifbar, wie es der normale Operngraben nicht zulässt. Um solcher Intimität stand zu halten, reicht keine Telefonkapelle, sondern müssen erfahrene Überzeugungstäter ran. Die hat sich Timm aus Gewandhaus- und MDR-Orchester so zusammengestellt, dass sich trotz der Minimalbesetzung von der ersten Sekunde an ein wohliger Klangschwall entwickelt, der dem Wagnerianer einen Hauch von Glück beschert. Mittendrin statt nur dabei. Trotz oder gerade wegen eines mehrsekündigen Halls.
Bei so unmittelbarer Erlebbarkeit stört die fehlende Groß-Inszenierung nicht. Auch so passiert genug. Und: Kein Sänger muss vor Schreien rot anlaufen, um verstanden zu werden. Genau so wenig ist es selbstverständlich, dass es weder bei den stimmgewaltigen Chören von Universität und Vocalensemble, noch in der Solistenriege wesentliche Mängel gibt. Sicherlich kann man streiten, ob Wolf-Matthias Friedrich für den Titelpart nicht etwas zu dick aufträgt, aber Kraft hat sein Holländer. Ulrike Fulde gibt eine bisweilen scharfkantige, aber dann wieder samtene Senta, Martin Petzold den stimmlich zuverlässigen Steuermann, Klaudia Zeiner eine überzeugende Mary. Die anderen beiden haben noch die lustigen Uraufführungsnamen: Donald (alias Daland, entspannt und souverän: Jürgen Trekel) und Georg (alias Erik, bestimmt und dramatisch: Manfred Wulfert).
Musikalisch bietet diese Version tatsächlich Raueres und Eckigeres. Am eindringlichsten zum Schluss: kein Erlösungsmotiv, sondern rabiate Untergangsstimmung. Die hat Timm bestechend eingefangen und den Beweis erbracht, dass der größte deutsche Opernkomponist auch in der Bachstadt ein Anrecht auf höhere Weihen hat. Standing Ovations und glückliche Gesichter. Keine Frage, 2013 sollte der Leipziger Ring stehen.
Friedrich Pohl
© Leipziger Volkszeitung, Montag, 9. Mai 2005