Neue Töne gegen das Vergessen
Finanzkrise, Obama-Mania, Klimakatastrophe: In den vergangenen Wochen gab es hinlänglich Anlässe zum Diskutieren, Aufregen, Nachdenken. Da kann historisches Gedenken schnell auf der gedanklichen Ersatzbank landen. Dagegen wurde am Samstagabend im Leipziger Bundesverwaltungsgericht ein Zeichen gesetzt: mit verstörend guter Musik.
Vor 75 Jahren verurteilten die Nazis Marinus van der Lubbe, der den Brand im Reichstag gelegt haben soll, zum Tode. Wenig später wurde er hingerichtet. Der Prozess um den Reichstagsbrand markiert das Ende des Rechtsstaats. Es gibt viele Möglichkeiten des Erinnerns. In der Großen Halle des Bundesverwaltungsgerichts entschied man sich für ein Konzert mit dem Mendelssohn-Orchester unter der Leitung von David Timm, der sagt.: „Jede Kunst hat ihre eigene Wirkungsweise. Aber die Musik ist unersetzlich. Man stellt sich Gefühlen, setzt sich ihnen aus.“
Ausdrucksstark und gefühlvoll sind die Werke, die Timm und sein Orchester vortragen. Wolfgang Rihms „In doppelter Tiefe“ verarbeitet ein Gedicht van der Lubbes. Expressiv-lärmend dröhnt das Orchester, wunderbar klar und voluminös singen Klaudia Zeiner (Alt) und Mareike Schellenberger (Mezzosopran). Aus den beiden Stimmen wird mal eine, mal kämpfen sie gegeneinander an. Die Sängerinnen müssen nicht gegen das gewaltige Schlagwerk ansingen: Rihm lässt das Orchester pausieren, oder Timm nimmt es zurück und schafft geschmeidige Übergänge. „Man kann dieses Programm als Plädoyer für die Neue Musik verstehen“, sagt der Universitätsmusikdirektor. Schließlich werde Rihm immer noch viel zu selten aufgeführt. „Wir haben lange überlegt, was man zu diesem Anlass spielen könnte. Wir dachten zum Beispiel an das Brahms-Requiem.“ Aber diesmal gibt es keine Klage-Klassiker, sondern Jos Rincks Flötencollagen „MenschenMusikRecht“, von ihm vorgetragen. Und Dimitri Schostakowitschs tief berührende 13. Sinfonie.
Bassist Marek Rzepkas Gesang hat genug Ernsthaftigkeit und ist dennoch nicht steif und sperrig, Orchester und der Männerchor, zusammengesetzt unter anderem aus Mitgliedern des Universitätschors, rütteln auf: Gewaltmotivik, Walzer- und Marschrhythmen, liebliche Melodien, die plötzlich in dissonante Verspottungen kippen. Großartig, aufwühlend, unvergesslich.
Maren Winterfeld
© Leipziger Volkszeitung, Dienstag, 10. November 2008