"Bach exemplarisch"

Bachs Lehrwerk

Martin Stadtfeld mit dem „Wohltemperierten Klavier“
im Bundesverwaltungsgericht

Das „Wohltemperierte Klavier“ (WK) von Johann Sebastian Bach: Hans von Bülow hat es als „Altes Testament“ bezeichnet, ein grandioses Lehrwerk ist es und zugleich eine beeindruckende Leistungsschau des Komponisten Bach. Teil eins des WK (BWV 846-869) ist in Bachs Köthener Zeit entstanden und enthält eine Sammlung von 24 Präludien und Fugen, die sich chromatisch durch alle zwölf Dur- und Moll-Tonarten schieben. Aber muss man es sich antun, das ganze WK 1 hintereinander anzuhören? Am Dienstagabend wollen dies weit mehr, als der Große Sitzungssaal des Bundesverwaltungsgerichts fassen kann. Die reichlich 250 Zuhörer, die Einlass finden, verbringen zweimal 45 Minuten im ausverkauften, stickigen Saal und können am Ende gar nicht genug bekommen.

Denn Martin Stadtfeld spielt den ersten Band des WK und nennt es „Bach exemplarisch“. Der junge Pianist, der 2002 den Internationalen Bach-Wettbewerb in Leipzig gewann, hat sich auch mit seiner neuen CD-Einspielung wieder auf Bach besonnen. Nun will er live zeigen, wie viel Barock und wie viel Romantik in Bachs Lehrwerk steckt. Hintereinander weg spielt er, auswendig, ganz versunken.

Bei dem Steinway-Flügel im Bundesverwaltungsgericht muss er sich um die Wohltemperierung, sprich: Stimmung, keine Sorgen machen. Vielmehr nutzt er alle Möglichkeiten des modernen Instruments hinsichtlich Dynamik, Farbgebung und Klangmodulation voll aus. Da wird schon mal ordentlich auf die Pedale getreten, schwimmen Akkorde verklärt dahin, tönt der Steinway wie zarter Harfenklang. Zart fließen die Präludien und Fugen aus Stadtfelds magischen Händen oder kommen trotzig, markig, nachdrücklich daher. Mal verliert er sich in Raum und Zeit, um kurz darauf in Ekstase durch das nächste Präludium zu preschen.

Und scheinbar verfügt Stadtfeld über Akkus mit Endlos-Power: Den lang anhaltenden, begeisterten Applaus und die vielen Bravo-Rufe erwidert er mit Prokofjews furioser, kraftzehrender Toccata, um gleich noch Bachs innige Siciliana nachzuschieben.

Birgit Hendrich

© Leipziger Volkszeitung, Donnerstag, 17. September 2009

Duo Martin Stadtfeld – Jan Vogler

Gambensonaten im Gericht

Gesprächskonzerte haben Konjunktur –
Bach-Musik mit Jan Vogler und Martin Stadtfeld

Sind jugendliche Frische und überspringendes Musikantentum am Werk, ist das Ergebnis oft staunenswert. So war es gewiss kein Zufall, dass dessen Führungskopf Christoph Wolff die Rechtfertigung der aufführungspraktischen Ungenauigkeit zum Aufhänger seiner einführenden Worte machte. Das Bach-Archiv Leipzig lud für Dienstagabend ins Bundesverwaltungsgericht zu einem außergewöhnlichen Konzert …

Genauer gesagt: Man lud in den historischen Plenarsaal – mit seiner nicht zu unterschätzenden hölzernen Überakustik. Dass man dort Johann Sebastian Bachs Gambensonaten mit Cello und Klavier hört, begründet Wolff wortreich. Das Pro-Argument, schließlich habe es das Cello ja zu Bachs Zeit schon gegeben, und der Meister besitze großen Anteil an der Entwicklung des Klaviers, ist ein wenig streitbar, bedenkt man, dass die Werke relativ spät und explizit für Gambe entstanden. Doch die Aufführung rechtfertigt das Unterfangen weitestgehend. Also, Gesprächskonzerte haben Konjunktur, und Wolff überfliegt Formanalyse und Gattungsgeschichte in weniger als 30 Minuten und schafft es in diesem Zeitfenster auch noch, die analytische Lupe über neuralgische Punkte zweier der drei Sonaten zu halten.

Das Ergebnis ist gewissermaßen ein kleiner Themenabend, der dank vierer Zugaben dann sogar fast Konzertlänge hat. Martin Stadtfeld und Jan Vogler haben sich da ganz offensichtlich eine Baustelle geschaffen und selbst merklich Spaß an dem Projekt. Kammermusik im allerbesten Sinne machen die beiden Musiker – eingespielt und ohne Routine aukommen zu lassen. Mit Frische und mächtigem Drive sind da zwei absolute Könner am Werk. Dennoch den großen Bogen zu finden und zu spannen, ist schwer in diesem Raum. Hier im Plenarsaal jedenfalls haben der Pianist und ganz besonders der Cellist auch noch sämtliche Ohren voll zu tun, in Bezug auf Tempo und Dynamik auf die nicht immer sonderlich vorteilhaften akustischen Gegebenheiten zu reagieren.

Warum der einzige Nicht-Bach an diesem Abend (die Schostakowitsch-Zugabe) den deutlich stärksten Beifall entfesselt, mag zwar mit Blick auf Raum und Besetzung zu denken geben; hat aber vielleicht auch damit zu tun, dass das, was die Musiker da hinlegen, schlicht furios ist. Gelöster, wenn auch nicht präziser, klingen danach auch die drei Bach-Wiederholungen.

Tatjana Böhme-Mehner

© Leipziger Volkszeitung, Freitag, 5. Dezember 2008

Jede Sorte von Glück

Gedeck, Reimann und einiges Glück

Sie hat ihr ihr Gesicht geliehen, ihre Intensität. Martina Gedeck spielte im Film „Hunger auf Leben“ die Schriftstellerin Brigitte Reimann, die im Juli 75 geworden wäre und in der Literatur so unsentimental melancholisch und trotzig beharrend war wie in der Wirklichkeit. In Zuneigung kompromisslos begleitete sie ihre Helden durch all die schmerzlichen Erfahrungen, die sie selbst als „Menschwerdung“ bezeichnete, während sie selbst lebte und liebte, „als wär jeder Tag der letzte“.

So sagt die Schauspielerin über die Autorin: „Brigitte Reimann ist eine Frau, die mir persönlich viel bedeutet. Sie ist ihrer Berufung gefolgt, auch wenn das für sie nicht immer einfach war. Sie hat sich nie auf ihrer Begabung ausgeruht.“ Nicht zufällig also kommt Gedeck heute nach Leipzig, um aus Reimanns „Jede Sorte von Glück“ (Aufbau-Verlag 2008) zu lesen. Sie meint, es gebe kaum ein Dokument, das über die DDR der 50er bis 70er Jahre so viel erzähle wie das Werk der Brigitte Reimann, insbesondere ihre Tagebücher, Briefe und ihr großer Roman „Franziska Linkerhand“. Reimanns Texte seien „ein Stück Deutschland, das zu uns gehört“.

hoy

© Leipziger Volkszeitung, Montag, 17. November 2008

Grußwort der Bundesministerin der Justiz

Der Nationalsozialismus hat ab 1933 den deutschen Rechtsstaat planmäßig zerstört. Recht, Sicherheit und Gerechtigkeit wurden durch Unrecht, Willkür und Terror ersetzt. Die deutsche Justiz und viele ihrer Angehörigen haben in der Folgezeit schwere Verbrechen begangen und große Schuld auf sich geladen. Der Reichstagsbrandprozess steht am Beginn der Zerstörung des Rechtsstaates. Das Verfahren und das Urteil gegen den vermeintlichen Brandstifter Marinus van der Lubbe verstießen gegen elementare Grundsätze der Gerechtigkeit. Nur durch den Bruch des rechtstaatlichen Grundsatzes, wonach eine Strafe vor einer Tat klar bestimmt sein muss, konnte van der Lubbe zum Tode verurteilt werden. Es war deshalb richtig, dass die Generalbundesanwaltschaft im Frühjahr 2008 förmlich festgestellt hat, dass das Todesurteil Unrecht gewesen und aufgehoben ist.

Ein kluger Kopf hat einmal gesagt, sich zu erinnern, heiße nicht, das Gedächtnis zu belasten, sondern den Verstand zu erleuchten. Wenn wir in diesem Tagen an den Prozess vor 75 Jahren und das Versagen der Justiz jener Zeit erinnern, dann tun wir das vor allem, um uns der Bedeutung unseres Rechtsstaates zu vergewissern. Eine starke Justiz mit unabhängigen Richterinnen und Richtern ist für Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit unverzichtbar. Der Rechtsstaat lebt ebenso wie die freiheitliche Demokratie auch vom persönlichen Engagement des Einzelnen. Deshalb begrüße ich es sehr, dass der Verein „Kunst und Justiz im Bundesverwaltungsgericht“ und seine Mitglieder sich so tatkräftig dafür einsetzen, die Erinnerung an den Reichstagsbrandprozess und das Schicksal Marinus van der Lubbes wach zu halten.

Diese Veranstaltungsreihe bietet Gelegenheit, sich in ganz unterschiedlicher Art mit den Ereignissen vor 75 Jahren zu befassen – wissenschaftlich und künstlerisch, juristisch und historisch, musikalisch und visuell. Ich danke allen, die mit ihrem Engagement als Veranstalter, Akteure oder Förderer zu diesem Programm beitragen und ich grüße alle, die – frei nach Lessing – durch das Erinnern ihren Verstand erleuchten.

Brigitte Zypries, MdB
Bundesministerin der Justiz

Verschwörungstheorien

Endlose Verschwörungstheorien

75 Jahre nach dem Reichstagsbrandprozess soll in Leipzig ohne die üblichen Grabenkämpfe erinnert werden

Hitler grollte über „vertrottelte Richter“ und ein „lächerliches Ergebnis“. Vor 75 Jahren fand in Leizig der Reichstagsbrandprozess statt – und im Streit über das Urteil ist kein Ende in Sicht. Am Ort des Geschehens soll nun eine Veranstaltung deutlich machen, warum jenes Gerichtsverfahren bis heute wichtig ist.

„Das ist uninteressant“, sagt Georg Herbert, obwohl er weiß, dass er mit diesen drei Worten Zorn auf sich ziehen könnte. Seit einem Dreivierteljahrhundert wird über den Reichstagsbrand erbittert gestritten. Die Kernfrage: Legten die Nazis das Feuer, um die Schuld den Kommunisten in die Schuhe zu schieben? Bei diesem Streit sei „nichts mehr zu holen“, erklärt Herbert. Er ist Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht – also am Ort des Prozesses von 1933. Als Mitstreiter des dortigen Vereins Kunst & Justiz bereitet er für das kommende Wochenende ein Programm fernab der bei dem Thema üblichen Grabenkämpfe von Historikern und Juristen vor. Es soll nicht um die Täterschaft, sondern um die Bedeutung des Verfahrens für die Gegenwart gehen.

„Mit dem Reichstagsbrandprozess begann die planmäßige Zerstörung des Rechtsstaats“, erläutert Herbert. „Wir wollen ein Zeichen setzen, wie wichtig eine unabhängige Justiz ist. Man muss in dieser Frage immer wachsam sein.“

Seit dem 30. Januar 1933 war Hitler Reichskanzler, am 27. Februar stand das Parlamentsgebäude in Flammen, am Folgetag setzte Reichspräsident Hindenburg mit einer Verordnung „zum Schutz von Volk und Staat“ die Verfassung teilweise außer Kraft. „Jetzt wird durchgegriffen“, titelte der Völkische Beobachter, wichtigstes Blatt des NS-Regimes, das seine Gegner mit einer Terrorwelle überrollte und auch die Brandermittlungen lenkte. Demnach war nach Ausbruch des Feuers der niederländische Anarchismus-Sympathisant Marinus van der Lubbe im Reichstag gestellt worden. Er soll sogleich gestanden haben.

Der Prozess am Leipziger Reichsgericht begann am 21. September und endete am 23. Dezember 1933 – zeitweise wurde auch in einem unzerstörten Saal des Reichstags verhandelt. Auf der Anklagebank saßen neben van der Lubbe vier Kommunisten als angebliche Hintermänner, darunter der Bulgare Georgi Dimitroff, Funktionär der Kommunistischen Internationale.

Die Leipziger Richter solltem dem Regime einen Propaganda-Erfolg liefern und zugleich der mit 82 Korrespondenten vertretenen Auslandspresse einen fairen Prozess demonstrieren. „Ein solcher Spagat war nicht möglich“, erklärt Rechtshistoriker Walter Pauly von der Universität Jena. Die anfängliche Live-Übertragung im Radio wurde eingestellt, im Verlauf der 57 Verhandlungstage gab es keine Beweise für eine Verwicklung kommunistischer Funktionäre. Dimitroff brachte vielmehr die als Zeugen auftretenden NS-Größen Göring und Goebbels in Bedrängnis. „Ich bin nicht hierher gekommen, um mich von Ihnen anklagen zu lassen“, brüllte Göring, dem der Senatschef prompt Beistand leistete.

Die Verhandlungsführung war politisch ebenso wenig neutral wie das Urteil, in dem die Hitler-Partei höchstes Lob erhielt. Über die KPD hieß es hingegen: „In ihrem Lager sind also die Urheber dieses Anschlags und die Mittäter van der Lubbes zu suchen.“ Dennoch wahrte die Justiz einen Rest von Unabhängigkeit: Van der Lubbes Mitangeklagte sprach das Gericht aus Mangel an Beweisen frei, einzig der Holländer wurde hingerichtet. Anfang 2008 hob die Bundesanwaltschaft das Todesurteil auf. Die Richter hatten es rechtsstaatswidrig auf der Grundlage von Gesetzen verhängt, die erst nach dem Brand geschaffen worden waren.

Heute glauben die meisten Fachleute, dass van der Lubbe ein Alleintäter war. Es gebe aber Verschwörungstheorien wie beim Mord an Kennedy, meint der Freiburger Historiker Ulrich Herbert. Der ist überzeugt, dass der Brand den Nazis in den Kram passte und von ihnen spontan genutzt wurde. Die übrigen Varianten lauten beispielsweise: Van der Lubbe und NS-Leute hätten zufällig gleichzeitig gezündelt. Oder: Nazis, die sich als Kommunisten ausgaben, hätten den Holländer angestiftet. Falls der überhaupt dabei war …

Dimitroff stieg nach seinem Freispruch zum Chef der Kommunistischen Internationale in Moskau auf, war dort in die Verbrechen Stalins verstrickt. In Berlin hingegen zeigte sich die NS-Führung mit dem Prozess so unzufrieden, dass sie dem Reichsgericht die künftige Zuständigkeit für Hochverrat entzog und dafür den so genannten Volksgerichtshof gründete.

Armin Görtz

© Leipziger Volkszeitung, Mittwoch, 5. November 2008

Neue Töne gegen das Vergessen

Neue Töne gegen das Vergessen

Finanzkrise, Obama-Mania, Klimakatastrophe: In den vergangenen Wochen gab es hinlänglich Anlässe zum Diskutieren, Aufregen, Nachdenken. Da kann historisches Gedenken schnell auf der gedanklichen Ersatzbank landen. Dagegen wurde am Samstagabend im Leipziger Bundesverwaltungsgericht ein Zeichen gesetzt: mit verstörend guter Musik.

Vor 75 Jahren verurteilten die Nazis Marinus van der Lubbe, der den Brand im Reichstag gelegt haben soll, zum Tode. Wenig später wurde er hingerichtet. Der Prozess um den Reichstagsbrand markiert das Ende des Rechtsstaats. Es gibt viele Möglichkeiten des Erinnerns. In der Großen Halle des Bundesverwaltungsgerichts entschied man sich für ein Konzert mit dem Mendelssohn-Orchester unter der Leitung von David Timm, der sagt.: „Jede Kunst hat ihre eigene Wirkungsweise. Aber die Musik ist unersetzlich. Man stellt sich Gefühlen, setzt sich ihnen aus.“

Ausdrucksstark und gefühlvoll sind die Werke, die Timm und sein Orchester vortragen. Wolfgang Rihms „In doppelter Tiefe“ verarbeitet ein Gedicht van der Lubbes. Expressiv-lärmend dröhnt das Orchester, wunderbar klar und voluminös singen Klaudia Zeiner (Alt) und Mareike Schellenberger (Mezzosopran). Aus den beiden Stimmen wird mal eine, mal kämpfen sie gegeneinander an. Die Sängerinnen müssen nicht gegen das gewaltige Schlagwerk ansingen: Rihm lässt das Orchester pausieren, oder Timm nimmt es zurück und schafft geschmeidige Übergänge. „Man kann dieses Programm als Plädoyer für die Neue Musik verstehen“, sagt der Universitätsmusikdirektor. Schließlich werde Rihm immer noch viel zu selten aufgeführt. „Wir haben lange überlegt, was man zu diesem Anlass spielen könnte. Wir dachten zum Beispiel an das Brahms-Requiem.“ Aber diesmal gibt es keine Klage-Klassiker, sondern Jos Rincks Flötencollagen „MenschenMusikRecht“, von ihm vorgetragen. Und Dimitri Schostakowitschs tief berührende 13. Sinfonie.

Bassist Marek Rzepkas Gesang hat genug Ernsthaftigkeit und ist dennoch nicht steif und sperrig, Orchester und der Männerchor, zusammengesetzt unter anderem aus Mitgliedern des Universitätschors, rütteln auf: Gewaltmotivik, Walzer- und Marschrhythmen, liebliche Melodien, die plötzlich in dissonante Verspottungen kippen. Großartig, aufwühlend, unvergesslich.

Maren Winterfeld

© Leipziger Volkszeitung, Dienstag, 10. November 2008

Streben nach Logik

Streben nach Logik  –
Ein Wagnis: „Meistersinger“ konzertant im Leipziger Schauspielhaus

Wagneropern konzertant auf die Bühne zu bringen, ist gewiss nicht neu, wenngleich keinesfalls selbstverständlich. Doch während sich die aktuelle „Ring“-Aufführung durch das Rundfund Sinfonieorchester Berlin auf Ausschnitte – und diese auf mehrere Abende verteilt – beschränkt, zielten die „Meistersinger“ am Dienstag im Leipziger Schauspielhaus auf eine musikalisch adäquate und ungekürzte Produktion. Ein Wagnis, denn viereinhalb Stunden lang eine Musik zu bieten, die geradezu nach Bühne ruft, musiziert von einem Ensemble, dem gerade einmal drei Probentage zur Verfügung standen, verlangt ein Maximum an Konzentration und Ausdauer.

Zu danken ist der Erfolg des Abends in erster Linie Universitätsmusikdirektor David Timm, der nach dem „Fliegenden Holländer“ von 2005 nun die zweite Wagneroper konzertant aufführte und dabei nicht versäumte, die mächtige Partitur von der Patina früherer Interpretationen zu befreien. Timm mistet aus, schmirgelt pastöse Ablagerungen wie übertriebene Temposchwankungen und Crescendi herunter. Was bleibt, was wirklich in der Partitur steht, strebt nach Transparenz, innerer musikalischer Logik. Da werden barocke Elemente hörbar, wenn David, der Lehrbube des Hans Sachs, den Edlen Stolzing im Meistergesang unterrichtet. Oder in den fugierten Chorpartien, den Tempowechseln zwischen gerad- und ungeradzahligem Takt.

Timms Zeichengebung ist dabei unmissverständlich und selbst für den weit auf der Hinterbühne platzierten Universitätschor gut zu verfolgen. Tribut an die Beschaffenheit der Akustik: Der Chor wurde über Mikrofone verstärkt. Eine durchaus sinnvolle Maßnahme, zumal sparsam eingesetzt und sehr gut ausgesteuert. So blieb der Eindruck eines ganzheitlichen Klangbildes gewahrt.

Hervorragendes leistete das Mendelssohn-Orchester um Konzertmeister Andreas Hartmann. Erstaunlich, wie homogen der Orchesterklang schon das grundständige C-Dur des Vorspiels auseinanderfaltet, vereint doch das Ensemble wie in musikalischer Ökumene Musiker aus mehreren Orchestern Mitteldeutschlands. Faszinierend die lustvolle Disziplin, mit der sie die sinfonischen Vor- und Zwischenspiele ausmusizieren, wie sie hier den ganz starken, voluminösen Orchesterklang aufbauen und an anderer Stelle geradezu kammermusikalisch filigran agieren.

Sehr zum Vorteil für die Gesangssolisten, die, in vorderster Reihe platziert, dadurch den richtigen Rückenwind erhalten. Und wahrhaft beflügelt bietet Wolf Matthias Friedrich die Partie des schelmischen Schusters Hans Sachs: ausdrucksstark, überaus anpassungsfähig und mit komödiantischem Witz singt er die berühmte Klopfszene im zweiten Akt, mit weittragender stimme den Wahn-Monolog im dritten. Gleich souverän agiert Martin Petzold als Lehrbube David, während der rabenschwarze Bass von James Moellenhoff kongenial zur Figur des Veit Pogner passt.

Dessen Tochter Eva (Nancy Gibson) fügt sich harmonisch in das Solistenensemble, tritt jedoch in den aufgeregten Szenen (Besuch bei Hans Sachs) akzentreich hervor. Überragend: Dietrich Greve als Sixtus Beckmesser. Diese Partie scheint ihm auf den Leib geschrieben, zumal jederzeit zu spüren war, wie stark er die szenischen Aspekte seiner Rolle verinnerlicht hat. Was sich von Matthias Aeberhard alias Walther von Stolzing leider nicht behaupten lässt. Irgendwie wirkte er auf ganzer Linie fehlbesetzt. Reihenweise verpatzte Einsätze, falsche Bühnenpositionen, eingefrorene Mimik und eine abgeschnürte Stimme, die über ein Mezzoforte ohne Quetschungen nicht hinauskommt: Mit diesem Auftritt hat er sich keinen Gefallen getan.

Für die größte Überraschung des Abends hingegen sorgt Kathrin Göring, die mit der Amme Magdalene zugleich ihr Wagner-Debüt gibt. Herrlich klar, zum Mitschreiben deutlich und dabei mit einer glutvoll durchpulsten warmen Stimme bietet die Sängerin der Oper Leipzig ihren Part. Das war nicht nur gut, das war exzellent.

Trotz der konzertanten Aufführung ist eine Rumpf-Regie unabdingbar. Etwa für die Auf- und Abgänge der Solisten, ebenso für die Klangregelung und die Textprojektionen mit Regieanweisungen Richard Wagners sowie für verschiedene Beleuchtungseinstellungen. Dass dies alles reibungslos klappt, darf man dem Regieteam um Philipp Neumann danken. Am Ende brandet langer, verdienter Applaus auf: Leipzig hat seinem Wagner zu dessen Geburtstag ein Ständchen nach Meistersingerart geschenkt.

Die Aufführung in Kooperation mit den Universitätsmusiktagen war zugleich Höhepunkt und Abschlussveranstaltung der Wagner Festtage des Richard Wagner Gesellschaft Leipzig 2013 e.V.; dessen Vorstandsvorsitzender Philipp Neumann ist zufrieden. Die Akzeptanz habe deutlich zugenommen, was die mit knapp 3000 stark gewachsene Zahl an Besuchern untermauere. Auch habe sich gezeigt, dass etwa die unkonventionelle Wagner Jazz Lounge sowie die durch Wortakrobat Paul Fröhlich humorvoll zelebrierte „Wagner-Dämmerung“ auf dem Fockeberg gangbare Wege sind, den in Leipzig geborenen Komponisten stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken.  

Jörg Clemen

© Leipziger Volkszeitung, Donnerstag, 24. Mai 2007

Alles fügt sich, überrascht …

Alles fügt sich, überrascht, lässt aufhorchen

Leipziger Kammerorchester mit Mozart-Marathon
im Gericht

Veranstaltungen zum 250. Mozart-Geburtstag sind derzeit inflationär. Da ist das Bedürfnis nach einem ausgewachsenen „Marathon“, wie es ihn am Wochenende im Leipziger Bundesverwaltungsgericht gab, eher begrenzt. Doch im punkvollen Großen Sitzungssaal funktioniert das Unterfangen. Dort bietet das Leipziger Kammerorchester in unterschiedlichen Formationen Kammermusik, Konzerte und die Jupiter-Sinfonie. Die Atmosphäre ist familiär, pausierende Musiker setzen sich ins Publikum, charmante Details sind die Live-Fanfaren als Pausengong und Lutschbonbons gegen Hustenreiz am Eingang.

Jeweils sieben Stunden können Mozart-Freunde am Samstag und Sonntag im Gericht verbringen. Besucher, die Karten für den kompletten Marathon erworben haben, sind allerdings enttäuscht, dass das Programm an beiden Tagen identisch ist. Aber man kann es durchaus auch zweimal hören. Oder je nach Lust und Laune unterschiedliche Ausschnitte.

Nach Wenzel Fuchs‘ stürmisch gefeierter Interpretation des himmlischen Klarinettenkonzerts steht das Oboenquartett KV 370 auf dem Programm. Unter Führung von Henrik Wahlgren klinget es zart und munter; die virtuosen Oboenläufe perlen und glitzern. Und hier wie in den übrigen Interpretationen des langen Abends gilt: Die Musiker sind mutig. Mutig genug, frech zu artikulieren, Vibrato allenfalls gezielt einzusetzen. Franz Vorraber findet fürs Klavierquartett KV 478 mit dem Blüthner zwar nicht das allerbeste Instrument vor – der Sound ist leicht verwaschen. Dennoch spürt man die schlanke, differenzierte Artikulation. Von sotto voce bis kraftvoll reicht die Palette, die eine enorme Ausdruckstiefe erreicht.

Die greift Dirigent Morten Schuldt-Jensen im Konzert für Flöte und Harfe auf. Der Entschluss, auch auf modernen Instrumenten weitestgehend ohne Vibrato zu spielen, erzeugt ungewohnte, intensive Klangerlebnisse. Schuldt-Jensen kostet die Dissonanzen aus, lässt das Kammerorchester lustvoll seiner durchdachten Interpretation folgen. Keine Begleitfigur verliert sich in Beiläufigkeit. Alles fügt sich, überrascht, lässt erstaunt aufhorchen.

Heike Bronn

© Leipziger Volkszeitung, Donnerstag, 16. Februar 2006

Bayreuther Hügelstürmer hautnah

Bayreuther Hügelstürmer hautnah

Gemeinhin zählt der „Fliegende Holländer“ zu den vergleichsweise weniger schweren Werken. Für Wagner-Verhältnisse! Aber die beiden Teile der Großpartitur sind schwer genug, um einen sonst stabilen Notenständer zumindest ins Wackeln zu bringen. Da schwant David Timm nichts Gutes, weiß er doch um die physische Gewalt, die so ein Wagner-Abend entwickeln kann. Dann den Holländer lieber doch im fliegenden Partiturenwechsel, notfalls ein paar Takte auswendig. Und es klappt.

Es ist ein denkwürdiges Ereignis, was am Wochenende in den Hallen des Bundesverwaltungsgerichts vollbracht wird. Nicht nur, dass hier Wagners erster ganz großer Wurf in der Urfassung von 1841 erklingt, sondern dass man es mit vereinten Kräften tatsächlich geschafft hat, den Bayreuther Hügelstürmer zu ganz neuen Qualitäten zu verhelfen. Teils aus Umstandszwang, teils durch beispielhafte Hingabe.

Denn in diesem Ambiente ist Wagner hautnah, schon fast kammermusikalisch. Jeder Ansatz, jeder Sturm, jedes Feuer wird unmittelbar greifbar, wie es der normale Operngraben nicht zulässt. Um solcher Intimität stand zu halten, reicht keine Telefonkapelle, sondern müssen erfahrene Überzeugungstäter ran. Die hat sich Timm aus Gewandhaus- und MDR-Orchester so zusammengestellt, dass sich trotz der Minimalbesetzung von der ersten Sekunde an ein wohliger Klangschwall entwickelt, der dem Wagnerianer einen Hauch von Glück beschert. Mittendrin statt nur dabei. Trotz oder gerade wegen eines mehrsekündigen Halls.

Bei so unmittelbarer Erlebbarkeit stört die fehlende Groß-Inszenierung nicht. Auch so passiert genug. Und: Kein Sänger muss vor Schreien rot anlaufen, um verstanden zu werden. Genau so wenig ist es selbstverständlich, dass es weder bei den stimmgewaltigen Chören von Universität und Vocalensemble, noch in der Solistenriege wesentliche Mängel gibt. Sicherlich kann man streiten, ob Wolf-Matthias Friedrich für den Titelpart nicht etwas zu dick aufträgt, aber Kraft hat sein Holländer. Ulrike Fulde gibt eine bisweilen scharfkantige, aber dann wieder samtene Senta, Martin Petzold den stimmlich zuverlässigen Steuermann, Klaudia Zeiner eine überzeugende Mary. Die anderen beiden haben noch die lustigen Uraufführungsnamen: Donald (alias Daland, entspannt und souverän: Jürgen Trekel) und Georg (alias Erik, bestimmt und dramatisch: Manfred Wulfert).

Musikalisch bietet diese Version tatsächlich Raueres und Eckigeres. Am eindringlichsten zum Schluss: kein Erlösungsmotiv, sondern rabiate Untergangsstimmung. Die hat Timm bestechend eingefangen und den Beweis erbracht, dass der größte deutsche Opernkomponist auch in der Bachstadt ein Anrecht auf höhere Weihen hat. Standing Ovations und glückliche Gesichter. Keine Frage, 2013 sollte der Leipziger Ring stehen.

Friedrich Pohl

© Leipziger Volkszeitung, Montag, 9. Mai 2005

Mit Wagner vor Gericht

Mit Wagner vor Gericht

Was hat er verbrochen? Für holprige Stabreime ist noch keiner eingesperrt worden. Auch Bayreuther Erbstreitigkeiten scheiden aus: Die werden in den Medien verhandelt. Warum also muss Richard Wagner vor Gericht?

Er muss ja gar nicht. Er darf. Denn dass das Foyer in Deutschlands schönstem Justizgebäude für eine konzertante Opernaufführung dient, ist absolut einmalig. Richter, die über Themen wie den Ausbau des Leipziger Flughafens entscheiden, wollen in ihrer Urteilsfindung üblicherweise nicht von „Johohoe!“ oder „Huissa!“ gestört werden. Deswegen hatte der Verein „Kunst und Justiz“ zunächst beim Gerichtspräsidenten eine Ausnahmegenehmigung zu erwirken.

Konzerte im holzverkleideten Großen Sitzungssaal in der ersten Etage sind hingegen keine Seltenheit. „Mittlerweile brauchen wir fast keine Werbung mehr zu machen. Die Leute fragen schon Wochen vorher nach“, erzählt der Vereinsvorsitzende, Bundesrichter Hartmut Albers (62). Dabei bestehe die Mischung sowohl in Publikum wie Verein aus jeweils drei Gruppen. 1. Richter, andere Hausangestellte und deren Bekannte. 2. Anwälte und Notare. 3. Schließlich musikinteressierte Bürger. „Das ist ja auch unsere Absicht: Wir möchten das Gebäude für die Öffentlichkeit zugänglich machen, Hemmschwellen abbauen.“

Anlässlich des Richard Wagner Kongresses soll es jetzt mal eine Nummer größer sein. „Die Idee, die Urfassung des ,Fliegenden Holländers‘ hier aufzuführen, stammt von David Timm, Uni-Musikdirektor. Der war als Cembalist im Leipziger Barockorchester schon beim allerersten Konzert im Jahr 2003 dabei“, erläutert Albers, während er gemeinsam mit seinem Kollegen und Stellvertreter Georg Herbert (58) demonstriert, in welchem Bereich der großzügigen Wandelhalle die 377-Plätze-Bestuhlung entsteht. Oben auf den Balustraden sollen in Stereo die Seefahrer aus Unichor und Leipziger Vokalensemble singen. Der Steinboden braucht noch einen überdimensionalen Belag, damit man nicht mit den Gesetzen der Akustik in Konflikt kommt.

Außerdem muss für das Mendelssohn-Orchester eine 7 mal 12 Meter große Bühne her. Die kommt direkt unter das nördliche Bleiglasfenster, das, an den beiden Abenden von außen angestrahlt, als stimmungsvolles Bühnenbild fungiert. „Die versteckten Anker und Seefahrtsmotive passen ja gut zum Sujet der Oper.“ Herbert erteilt sogar das Prädikat „Gesamtkunstwerk“. Schließlich werde weithin sichtbar auch der Portikus in ganz neuem Licht erscheinen.

Der Konzertbesuch ist also sicher keine Strafe. Und die erwarteten Kongressbesucher, Studenten, Richter, Anwälte und Bürger werden nicht zum Kommen verurteilt werden müssen. Man trifft sich ausnahmsweise mal ganz unverbindlich – mit „Wagner vor Gericht“.

Tobias Wolff

© Leipziger Volkszeitung, Montag, 2. Mai 2005

Happy Birthday, Herr Sperontes !

Happy Birthday, Herr Sperontes !

»Alles Bach, oder was?«, fragten wir in unserer letzten Ausgabe. >Nein, nicht alles, aber fast alles<, wird die Bach-Phalanx dröhnen. Doch glücklicherweise gibt es genügend Menschen, die sich von dem Gedröhn nicht beirren lassen und ihr Ohr immer wieder auch für all die Zwischen- und leiseren Töne schärfen, deren Zusammenklang erst die Musikstadt Leipzig ausmachen. Zu diesen Menschen gehört Thomas Fritzsch, 44, freiberuflicher Gambist und Spezialist für Musik des 17. und 18. Jahrhunderts. Schon vor längerer Zeit stieß der Absolvent der Leipziger Musikhochschule auf das Leipziger Liederbuch »Singende Muse an der Pleiße«, dessen Erstausgabe 1736 – also mitten in Bachs Leipziger Zeit – erschien und zu einem solchen »Bestseller« wurde, dass mehrere Auflagen und Fortsetzungen folgten.

Herausgeber der Sammlung war laut Titelblatt ein Herr Sperontes. Hinter dem Pseudonym verbarg sich ein Leipziger Jurist, Dichter und Musikliebhaber namens J. S. – nein, nicht Bach, sondern Scholze: Johann Sigismund Scholze. Dessen 300. Geburtstag am 20. März 2005 hat man in der Bach-seligen Pleißestadt ebenso wenig Beachtung zuteil werden lassen wie vor fünf Jahren seinem 250. Todestag am 28. September. Ja, er ist tatsächlich im selben Jahr wie Bach und genau zwei Monate nach diesem gestorben!

Höchste Zeit, sich seiner wieder zu erinnern. Schließlich hat sein Liederbuch, nachdem über ein halbes Jahrhundert lang kein vergleichbares Werk mehr erschienen war, zu einer Renaissance des Genres gerührt und es damit gleichsam vor dem Aussterben bewahrt. Denn zwischenzeitlich drohte es von den stark in Mode gekommenen Arien aus Opern und Kantaten völlig verdrängt zu werden.

Leipzig sang! In studentischen und in bürgerlichen Kreisen, in Kneipen und in Musiksalons wurden fortan die von Scholze auf Melodien zeitgenössischer Komponisten gedichteten Lieder gesungen. Und unter diesen Melodien finden sich, wie könnte es anders sein, auch welche von Johann Sebastian Bach. Thomas Fritzsch geht sogar so weit, aus diversen Indizien in Texten und Melodien der »Singenden Muse« wie auch mindestens einer Querverbindung zu Bachs berühmtem »Notenbüchlein« für seine Frau Anna Magdalena zu schließen, dass der Thomaskantor und der 20 Jahre jüngere Scholze sich nicht nur flüchtig gekannt haben müssen.

Seit zwei Jahren arbeitet Fritzsch nun zielstrebig auf eine Aufführung und CD-Einspielung der Lieder hin. Gemeinsam mit dem Cembalisten Ludger Rémy trifft er die Auswahl der Lieder und entwickelt mit ihm abwechslungsreiche Besetzungen mit verschiedenen Tasten und Streichinstrumenten, Gitarren und Lauten sowie zwei Singstimmen. »Die Aufführung dieser Werke darf nicht übermäßig verwissenschaftlicht werden, damit ihre Lebendigkeit erhalten bleibt«, erklärt Fritzsch. Wenn sie gemäß allen heute verfügbaren aufführungspraktischen Erkenntnissen musiziert würden, dann vermittelten sie viel vom damaligen Lebensgefühl.

Also sich fühlen wie ein Leipziger zur Bach-Zeit? Die Probe aufs Exempel kann am 9. August 2005 gemacht werden. Dann präsentieren Martin Petzold und Ulrike Staude (Gesang), Ulrich Wedemeier (Lauten und Gitarre), Simon Standage (Violine), Ludger Rémy und Thomas Fritzsch Lieder aus Sperontes‘ »Singender Muse«. Und zwar im Bundesverwaltungsgericht, also ganz in Pleißennähe!

Dirk Steiner

© Gewandhausmagazin Nr. 47, Sommer 2005

 

Lockere Lieder

Lauter laute Lieder zur Laute

Der Ärger hat Tradition. In Pfarrer Wolffs Revier rund um die Thomaskirche wurde schon im 18. Jahrhundert das „schändliche Sauffen, Tumultiren und Schreyen derer Studiosorum“ beklagt. Vor allem die „Schausereyen und Bacchanalien“ wurden beargwöhnt, zumal aus den Türen „Schand-Lieder nach der Geistlichen Lieder Melodeyen“ drangen. Auf der anderen Seite waren Kaffeehäuser und -gärten bevorzugte Auftrittsorte der ebenfalls studentischen Collegia musica.

Dass beide Seiten der Medaille nur gemeinsam glänzten, belegt die Liedersammlung „Singende Muse an der Pleiße“, vom Jura-Studenten Johann Sigismund Scholze zusammengetragen und 1736 unter dem Pseudonym Sperontes in Leipzig veröffentlicht. Die Sangeslust hat nachgelassen. Darum sollen in einem „Dokumentations- und Konzertprojekt“ die lockeren Lieder „auf Kosten der lustigen Gesellschaft“ wieder zu hören sein.

Im Sitzungssaal des Bundesverwaltungsgerichts wird heute die Wiege der Leipziger Orchesterkultur zum Schaukeln gebrach – mit Sopranistin Ulrike Staude und Tenor Martin Petzold. Ulrich Wedemeyer (Lauten und Gitarren), Thomas Fritzsch (Cello, Viola da Gamba, Basse de Violon), Ludger Rémy (Cembalo, Orgel, Fortepiano) und Simon Standage (Violine) begleiten diese konzertante Uraufführung auf historischen Instrumenten. Die Lieder besingen die Liebe, den Wein, die Jahreszeiten, den Fischfang oder das Junggesellentum und scheuen auch nicht galante Schäferpoesie.

Das „Sauffen, Schreyen und Tumultiren“ soll sich aber in Grenzen halten.

-nina

© Leipziger Volkszeitung, Dienstag, 9. August 2005

Der Keim des Kunstlieds

Der Keim des Kunstlieds

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts kommen Studenten nach Leipzig und singen in Kaffeehäusern bis tief in die Nacht hinein. Dabei entsteht die Liedersammlung „Singende Muse an der Pleiße“, herausgegeben von Johann Sigismund Scholze unter dem Pseudonym Sperontes.

Um die Jahrhundertmitte erfreuen sich seine studentischen Lieder großer Beliebtheit. Sie beschreiben das ausgelassene Leipziger Lebensgefühl, kreisen um Liebe und Wein, um Jagd und Natur, um die Segnungen des Junggesellenlebens und Lebenslust ganz allgemein. Ein riesiger Fundus origineller Texte und hinreißender Melodien. Und eigentlich der Keim dessen, was später als deutsches Kunstlied in die Musikgeschichte eingehen sollte.

Tenor Martin Petzold und Sopranistin Ulrike Staude haben sich mit Großmeister Simon Standage an der Violine, Ulrich Wedemeier mit Lauten und Gitarren, Ludger Rémy an Cembalo und Fortepiano und Thomas Fritzsch an der Gambe an dieser Sammlung gerieben und einen Querschnitt erarbeitet, der alle Nuancen dieser verspielten Liedkunst für den Hausgebrauch spiegelt.

Aufführungsort am Dienstagabend: der große Saal des Bundesverwaltungsgerichts. Das passt. Er liegt direkt an der Pleiße, und zwischen den holzverkleideten Wänden füllt die Musik auch atmosphärisch den Raum. Die mit sicherem Stilempfinden bedienten historischen Continuo-Instrumente sorgen für klangliche Abwechslung und für den Rest der komödiantisch begabte, inhaltlich seine Bögen spannende Petzold und die innig ungezierte Staude.

Die Aufführung ist ausverkauft, der Jubel erheblich. Und darum wird es im nächsten Jahr weitere Aufführungen geben.

Ilse Hagerer

© Leipziger Volkszeitung, Donnerstag, 11. August 2005